Duell
Samstag, 4. Juli 2015
Train E. – London Paddington
8:17am
Train E. – London Paddington
8:17am
Grün ist das Land, dampfend unter
rosagrauem Gewölk, hinter dem eine vanillegelbe Sonne sich verschlafen die
Augen reibt. Vor einer Woche, Samstagabend am Strand von Burton B., hatte das
Licht auch diesen Rosastich gehabt. Perfekt zum Photographieren. Leider kam M.
nicht von selbst auf diese Idee, obschon die Blumen auf meinem sehr englischen
Kleid (für 7.45 Pfund im Shop der British Heart Foundation erworben, während im
gegenüberliegenden Bike Shop zwei Männer an meinem kaputten Fahrrad
herumschraubten) leuchteten wie kleine Ausrufezeichen. Don’t use exclamation
marks!, hatte er zu mir gesagt, in einem Tonfall, der nicht nach einem Punkt am
Ende klang. Angeblich würde es neunmalklug wirken. Also gut, ich habe das
fragliche Slide meiner Präsentation entsprechend korrigiert – und ihn dann doch
mit einem Ausrufezeichen, oder mehreren, an den Strand befördert.
Im Sand hockend, die Knie
angewinkelt, beobachtete ich die beiden Männer, die mir ihre Rücken zuwandten,
den großen, gekrümmten und den kleinen, geraden, getrennt durch einen Abstand
von mehr als siebzig Jahren und doch vereint im Spiel mit den Wellen. Dieses
Spiel ging damit aus, daß der kleine Mann bis zu seiner Körpermitte von
inzwischen etwa einem halben Meter naß war, worüber die Mama natürlich gar
nicht erfreut war, doch gegen die ebenso natürliche männliche Unbekümmertheit,
die von dräuenden Krankheiten gar nichts wissen wollte, ja, von solchen
offenbar noch nie gehört hatte, war hier wenig auszurichten (einen Tag später
setzte das Fieber ein, 40 Grad, 4 Tage lang). Nur mit Geschrei ließ der Kleine
sich vom Wasser trennen, und in dieser Situation kam es dann doch zu einigen wenigen
Photos, die, gegeben die Umstände, nicht befriedigend ausgefallen sind. Das
stellte ich erst später, nämlich vorgestern, fest, da ich mit Blick auf F.s
nasse Hosen auf eine sofortige Kontrolle verzichtet hatte. Anders als eine
Woche zuvor in Exm., wo M., vollständig unvertraut mit der Kamerafunktion eines
Mobiltelephons, in drei Etappen etwa zwanzig Versuche unternahm und unternehmen
mußte, bis ich zufrieden war, weil ich ihn eher nicht aus der Verantwortung
ließ.
Trotzdem, und zwar nach einer langen
Auswahlprozedur, aus der eigentlich Photo IMG_20150620_195342 aus der Exm.-Serie als Sieger
hervorgegangen war, das ich der Email sogar bereits angehängt hatte, trotzdem
habe ich E. zuguterletzt eines von diesen Burton-B.-Bildern geschickt,
weil ich fand, daß es besser zu dem Gedicht paßte, ja, das Gedicht habe ich ihm auch
geschickt, vorgestern, während M. im Flur mit S., R.s Freundin, die neuerdings ebenfalls
für mich babysittet, über ihre Zukunftspläne sprach (Gap year in Portugal,
anschließend Physikstudium), ganz schnell mußte es gehen, wenn es heute
überhaupt noch etwas werden sollte, dann ganz schnell jetzt sofort, da blieb
keine Zeit mehr zum Hin-und Her-Überlegen, zum Abwägen der Für-und-Widers, für
einen gesitteten Dialog von Vernunft und Gefühl. Nein, an diesem Abend reichte
die Zeit für ein Duell, das mit einem einzigen Schuß entschieden zu sein hatte,
und das war es dann auch, schon war das mir plötzlich zu bieder erscheinende
Exm.-Bild durch das nach gewöhnlichen Maßstäben mißratene, jedoch, vielleicht auch
gerade deshalb, interessantere Burton-B.-Bild mit seinen leuchtenden Farben und
der Hauptfigur hinter einer Sonnenbrille verborgen, was ihr und dem ganzen
Arrangement einen Hauch von Mystik verlieh, schon war die Konvention durch ihr
Gegenteil ersetzt, das Gedicht angehängt, der separat entworfene Text in die
Email hineinkopiert und der Button ‚Senden‘ gedrückt. Peng – die Leidenschaft
hatte gewonnen; lautlos blutend erlag die Vernunft ihren tödlichen
Verletzungen.
Ob es nicht gefährlich sei, was ich
triebe, ob es nicht sicherer sei, einen Kosmos um fiktive Personen herumzubauen,
um sich der Versuchung zu berauben, mit diesen Personen in Interaktion zu
treten. Ob die Fiktion mit anderen Worten nicht am Ende doch vernünftiger sei
als die Realität. An seine Schulter gelehnt, draußen im Biergarten des O. F.,
sagte ich das, in die Abendsonne blinzelnd, die nur auf unseren Tisch fiel,
sonst nirgendshin. Der alte Mann mit dem Hut nickte und nahm einen Schluck von
seinem Cider. Heute nur ein half pint, denn er mußte ja noch nach Hause fahren.
Er wußte nicht, daß ich über einen anderen alten Mann sprach, sieben Jahre
jünger als er, nicht mehr. Vielleicht ahnte er es. Ich hatte auch gesagt, was
ich schriebe, sei faktisch ja Fiktion, nichts sonst. Eine Welt in meinem Kopf,
ein Universum der Sehnsucht, ein Labyrinth der Phantasie. Alles ist Fiktion,
und doch kann ich mir nichts Realeres vorstellen als dieses. It is faction, not
fiction.
Und ich wünschte so sehr, ich könnte
es mit Dir teilen. Ich wünschte so sehr, Du sprächest meine Sprache und wir
könnten zusammen darin wandeln, Tür auf und willkommen in der Traumwelt der Anaïs
Spiegel mit ihren weiten Ebenen, in deren Horizont Meer und Himmel einander
umschlingen, mit Felsformationen, in deren kratertiefen Abgründen so mancher
abgestürzte Ritter auf Rettung harrt, mit Wäldern, lieblichen und düsteren, und
immer wieder kleinen humorvollen Überraschungen am Wegesrand.
Willkommen! sage ich und lade Dich ein, ein
Stück des Weges mit mir zu gehen. Nur ein kleines Stück. Trau dich. Du wirst es
nicht bereuen.